Zeitenwenden

Pfarrer Joachim Wörner hat an Heiligabend 2024 über Zeitenwenden gepredigt: Nicht die Spirale der Gewalt, sondern das große Friedensprogramm verdienen diese Bezeichnung.

„Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen.“ (Galater 4,4-7)

Liebe Gemeinde,

dieses Jahr stehen nicht die Ereignisse der Geburt Jesu in Bethlehem auf dem Programm. Die Predigt nimmt einen Text von Paulus in den Blick, den nicht so sehr die Umstände der Menschwerdung Gottes interessieren, sondern die historische Bedeutung. Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn! Für Paulus ist das Geschehen von so zentraler Bedeutung, dass er von einer „Zeitenwende“ spricht. Die Geburt Jesu ist die entscheidende Zäsur, die Mitte der Zeit. Im 6. Jahrhundert ist es in Rom der Mönch Dionysius Exiguus, der die christliche Zeitrechnung begründet. Seitdem rechnen wir mit Jahrhunderten vor Chr. und nach Christus.

Zeitenwende – das ist ein Wort, von dem auch in unserer Zeit häufiger gesprochen wird. 2022 war das das Wort des Jahres. Geprägt hatte es Olaf Scholz in seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Februar 22. Drei Tage zuvor hatte Russlands die Ukraine überfallen und damit den Beginn einer neuen Ära markiert. „Die Welt ist danach nicht mehr dieselbe wie die Welt davor“, betonte der Kanzler. Tatsächlich hat sich viel verändert. Nicht nur die Gefahr eines dritten Weltkriegs ist wieder gegeben. Seitdem gab es unzählige politische, wirtschaftliche und militärische Entscheidungen. Auch solche, die nach dem Zweiten Weltkrieg lange als unverrückbare Gesetze galten.

Braucht es nicht ein positives Geschehen für eine Zeitenwende?

Vor 20 Jahren wurde schon einmal eine Zeitenwende verkündet, als am 9. September 2001 die Anschläge in den USA verübt wurden und islamistische Terrorristen Flugzeuge ins Pentagon und in die Türme des WTC flogen. Doch eignen sich militärische Aggressionen als Vorzeichen einer neuen Ära? Zweifelsohne versetzen sie Menschen in Angst und Schrecken. Sie bewirken oft auch eine Reaktion des Widerstands und der Solidarität gegen den Aggressor. Aber können Krieg und Terror wirklich ein Ende der Gewaltspirale bewirken? Braucht es dafür nicht ein anderes, ein positives Geschehen?

Für Paulus ist die Menschwerdung Gottes der Orientierungspunkt für einen Neuanfang. Nicht der Teufelskreis immer neuer Gewalt wird für ihn zur entscheidenden Zeitenwende, sondern das große Friedensprogramm Gottes. Was wusste Paulus über Weihnachten? Nicht viel. Zumindest nichts von dem, was uns die Evangelien von Jesu Geburt berichten. Sie wurden erst viele Jahre nach seinem Tod aufgeschrieben. In seinen Briefen setzt er aber die Geschichte Jesu voraus und reflektiert die Menschwerdung Gottes in Philipper 2 als eine außergewöhnliche Sendung Jesu in die Welt: Obgleich er wie Gott war, behielt er diesen Status nicht für sich selbst, sondern wurde Mensch und erniedrigte sich bis zum Tode. Noch einmal in 2. Kor. 8,9 heißt es: „Obwohl er reich war, wurde er arm um euretwillen.“ Was heißt das? Der Sohn Gottes baut sein Reich nicht mit Unterdrückung und Gewalt auf. Er ist jemand, der von Gottes Geist erfüllt ist und der diesen Geist anderen weiterschenkt. Einer der zum Frieden ruft, der ein neues Selbstverständnis für alle Kinder Gottes begründet, damit wir mündige Kinder Gottes werden können. Seine Zeitenwende steht für Fülle, Aufbruch und Veränderung. Das ist kein Kinderkram, sondern Weltpolitik.

Die Kirche ist fortan als Familie Gottes ein Raum der Freiheit. In ihr gibt es keine Ausschlusskriterien qua Kultur, den Ritus oder die Volkszugehörigkeit mehr. Statt Herkunft oder Geschlecht lebt die Gemeinschaft von einer befreienden Vielfalt, in der individuelle Begabungen Raum gewinnen. Nur die Taufe ist der Schlüssel zu dieser neuen Familie, mehr nicht. Der Geist, der sich so direkt und vertrauensvoll an Gott wendet, dass Gott „Abba“, lieber Vater, genannt wird, ist ein Freigeist. Er führt in die Freiheit und in die Mündigkeit. Die Familie Gottes ist nicht nur ein Raum der Freiheit, sie ist auch ein Raum des Vertrauens. In der Gegenwart Jesu darf ich mich meiner Verletzlichkeit und Schwäche stellen. Hier werde ich nicht nach Stärke, Disziplin und Leistungsfähigkeit beurteilt, sondern nach meinen Bedürfnissen. Hier darf so sein, wie ich bin.

Wolken und Licht - Thorsten Tanto

 

Das Beispiel Christoph Schlingensief

Schauen wir auf das Beispiel des Regisseurs und Aktionskünstlers Christoph Schlingensief verdeutlichen. Er verstarb 2010 im Alter von 50 Jahren an Lungenkrebs. In seinem Buch „So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein!“ berichtet er von der Zeit seiner Krankheit und erzählt u.a. von einem Weihnachtsfest mit seiner Mutter. Am Weihnachtsmorgen sitzen die beiden beim Frühstück, als er plötzlich mit den Tränen kämpfen muss. Da seine Mutter im Rollstuhl sitzt, geht er auf sie zu und legt seinen Kopf auf ihre Schulter. Als sie seine Hand nimmt, kann er seinen Tränen freien Lauf lassen. Dann sprudeln all die Dinge aus ihm heraus, die ihn schon lange belasten. Er erzählt von seinem Kampf, im Umfeld immer wieder Optimismus und Lebensfreude verbreiten zu müssen. Immer wieder muss er so tun, als ob alles ok sei. Wie müde er sei – und wie sehr er sich doch nach Leben sehnt. Erst als er sich die ganze Last von der Seele geredet hat, findet er zur Ruhe.

Im Rückblick ist das Gespräch für ihn ein echtes Weihnachtswunder. In der Gemeinschaft mit seiner Mutter erlebt Christoph Schlingensief den befreienden Geist Gottes. Ihre Hand spürend begreift er neu, wohin er gehört. Er macht sich los von allem, was ihn quält und bedrückt, auch von der Zumutung, den anderen gegenüber immer zuversichtlich und stark sein zu müssen.

Das eigene Licht erstrahlen lassen

Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Zu solcher Freiheit, einer Freiheit des Vertrauens und der Verletzlichkeit, ist er in die Welt gekommen.

Vor 10 Jahren verstarb in Südafrika ein Mensch, der für mich zu den beeindruckendsten Persönlichkeiten des letzten Jahrhunderts gehört: Nelson Mandela. Der Friedensnobelpreisträger war ein gläubiger Methodist, der sein ganzes Leben dem Kampf für die Freiheit widmete. Wie kaum ein anderer glaubte er an die große Familie Gottes, an die Gemeinschaft von Schwarzen und Weißen, an die Überwindung von Rassenhass und sozialer Ungerechtigkeit, an die Kraft der Versöhnung und Freiheit. Auch nach 27 Jahren Haft findet er noch den Mut und die Kraft an die Versöhnung zu glauben. Als erster schwarzer Präsident Südafrikas hat er mit vielen eindrucksvollen Gesten und Initiativen viel zu Versöhnung und Freiheit beigetragen. In einer seiner Reden zitiert er die amerikanische Aktivistin Marianne Williamson:

„Du bist ein Kind Gottes.
Wenn du dich klein machst,
dient das der Welt nicht.
Es hat nichts mit Erleuchtung zu tun,
wenn du schrumpfst,
damit andere um dich herum
sich nicht verunsichert fühlen.
Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit
Gottes zu verwirklichen, die in uns ist.
Sie ist nicht nur in einigen von uns,
sie ist in jedem Menschen.
Und wenn wir unser eigenes Licht
erstrahlen lassen,
geben wir unbewusst anderen
Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun.
Wenn wir uns von unserer eigenen
Angst befreit haben,
wird unsere Gegenwart
ohne unser Zutun andere befreien.“

An Weihnachten feiern wir Zeitenwende, jedes Jahr neu. Wir erinnern uns an das große Friedensprogramm Gottes, der uns in Jesus Christus zu einer Freiheit beruft, die groß macht. Eine Freiheit, die uns nicht schrumpfen lässt, sondern aufrichtet. Es ist eine Freiheit, die nicht unsicher macht, sondern selbstbewusst. Es ist eine Freiheit, die uns den Mut gibt, uns unserer Verletzlichkeit zu stellen, eine Freiheit, die die Angst überwindet und das Licht erstrahlen lässt. Es ist die Freiheit der großen Familie Gottes. Weil das so ist, sprechen wir an Weihnachten bis heute von einer großen Zäsur. Nicht eine weitere Spirale der Gewalt ist die entscheidende Zeitenwende, sondern das große Friedensprogramm Gottes. Amen.