Wo sollen wir hin?
Gottesdienst zum Tag des Flüchtlings in der Interkulturellen Woche
Kim Ahrend und Veronika Kabis haben am 29. September 2024 einen Gottesdienst gestaltet anhand von Bildern, die die Fotografin und Aktivistin Alea Horst von Kindern in Flüchtlingslagern weltweit aufgenommen hat.
Hier die Predigt von Veronika Kabis zum Nachlesen:
Liebe Gemeinde,
die meisten von Ihnen wissen wohl, dass ich beruflich mit Migration und Flucht zu tun habe. Für uns bei der Stadtverwaltung sind es Dauerthemen: Wie können Wohnungen für Geflüchtete gefunden werden? Wie gehen Kitas und Schulen mit der Vielfalt in den Gruppen und Klassen um, wie kann Chancengleichheit gewahrt werden, wenn die einen noch dabei sind, Deutsch zu lernen, und die anderen das Gefühl haben, sie müssen immer nur Rücksicht nehmen? Wie kann auf der einen Seite unsere Stadt attraktiv für die dringend benötigten, gut qualifizierten Fachkräfte aus dem Ausland werden und bleiben, ohne dass auf der anderen Seite Menschen kapitulieren unter den Herausforderungen der Diversität? Und wie geht es Geflüchteten, die all ihre Hoffnung auf Deutschland gesetzt haben, wenn ihnen von immer mehr Leuten für alles, was an anderer Stelle nicht gut läuft, die Schuld in die Schuhe geschoben wird?
Über alle diese Fragen könnte ich hier jetzt einen Fachvortrag halten. Das will ich aber nicht. Erstens, weil heute Sonntag ist und ich nicht im Dienst bin. Zweitens, weil ich auch nicht auf alle Fragen eine Antwort habe. Und drittens, weil es heute nicht um fachliche Antworten geht, sondern darum, wie wir als gläubige Menschen auf Migration und Flucht schauen könnten.
Ich nehme es vorweg: Als Christinnen und Christen haben wir einen klaren Kompass, der da heißt: Menschen auf der Flucht brauchen unsere Solidarität, Kinder sowieso. Geflüchtete, die hier ankommen, benötigen unsere Empathie und Hilfe. Die Bibel ist da eindeutig, sie ist ja auch nicht weniger als ein dickes „Buch der Flucht“. Sie berichtet von unzähligen Menschen, die von jetzt auf sofort alles stehen und liegen lassen und als Fremde einen Neuanfang versuchen. Sie leuchtet die Ränder der Gesellschaft aus und deutet auf viele verlorene Existenzen hin, die niemand sehen möchte. Sie lässt in den Psalmen Menschen ihre Klage darüber formulieren, dass sie verzweifelt vor ihren Häschern fliehen und ihnen das Wasser bis zum Halse steht. In der Bibel verdichten sich die Erfahrungen menschlicher Existenz zwischen Krieg und Frieden, Hass und Liebe, Ausgeschlossensein und Teilhabe.
Auch Jesus selbst lässt keinen Zweifel offen: Wer ihm nachfolgt, kann nicht anders, als sich für Menschen in Not, und das sind Geflüchtete, einzusetzen. Das muss nicht immer so konkret und unmittelbar sein wie wir das bei der Aktivistin und Fotografin Alea Horst gesehen haben. Aber zumindest in Worten und im Verhalten sollte man klar sein. Da kann man sich keiner rechtsextremen Rhetorik anschließen, das lässt sich mit dem christlichen Glauben nicht vereinbaren, auch wenn die sogenannten Christen in der AfD (und andere rechte christliche Kreise, von denen es leider genügend gibt) das vorzugaukeln versuchen.
Soweit, so klar. Aber was, wenn man seinen inneren Wertekompass nochmal auf das christliche Gebot der Nächstenliebe ausgerichtet hat – und dennoch bleibt da ein mulmiges Gefühl: Wie sollen wir das alles schaffen? Die Kinder in den Flüchtlingslagern tun mir leid, aber wir können doch nicht alle Flüchtlinge bei uns aufnehmen? Ich verstehe das. Und ich kann gerne noch eins draufsetzen: Bei denen, die wie ich, im Bereich von Migration und Integration arbeiten, ist es ja auch nicht anders: Wir sind manchmal ausgelaugt (erst recht, wenn dann auch noch Anfeindungen von allen Seiten kommen), und wir fragen uns auch, wie wir das alles schaffen sollen mit zu wenig Personal und Geld.
Aber an dieser Stelle komme ich wieder zurück zum christlichen Glauben. Er gibt uns nämlich nicht nur den moralischen Kompass. Er gibt uns auch die Stärke. Vielleicht nicht automatisch. Man muss schon immer wieder nach den Kraftquellen in der Religion suchen. Aber sie sind da.
Was gibt mir Kraft, wenn ich ausgepowert und ängstlich bin?
Ich schaue auf andere Menschen, die in ihrem Glauben Kraft finden oder gefunden haben. Ich lese ihre Texte, ich singe ihre Lieder. Ich versuche mich zu verbinden mit ihnen: indem ich ihre Nähe suche, indem ich mit ihnen spreche (oder, wenn es Menschen aus anderen Epochen sind, indem ich in ihren Schriften danach suche, was sie wohl getan hätten an meiner Stelle).
Ich tanke Kraft im Gottesdienst, bei Spaziergängen in der Natur, bei Aufenthalten an stillen Orten wie Klöstern oder Einkehrhäusern.
Wenn der eigene Akku leer ist, wenn die Lebensfreude sinkt und die Ängste steigen, dann hilft es nicht, die Schuld bei anderen zu suchen. Dann kann es doch nur darum gehen, bei sich selbst dafür zu sorgen, dass der Akku wieder aufgeladen wird. Die Angst ist nicht nur ein schlechter Ratgeber, sondern sie macht eng, drückt auf die eigene Stimmung und schürt Gewalt. Gegen die Angst hilft es nicht, andere zum Sündenbock zu machen. Gegen die Angst hilft, wenn dir jemand wie ein Mantra sagt: „Fürchte dich nicht.“ Kein Satz steht so häufig in der Bibel wie dieser: „Fürchte dich nicht.“ Und einen anderen Satz gibt es, den ich immer mit mir trage. Auch er besteht nur aus drei Worten: „Ich bin da.“ Gott ist da. Wenn die Angst vor der Überforderung kommt, wenn der Zweifel kommt, ob ich mir die Welt nicht doch zu rosarot male, wenn ich nicht aufhören will, an Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit zu glauben, dann rufe ich mir diese beiden Sätze ins Gedächtnis. Vor allem versuche ich, sie im Herzen zu tragen: „Fürchte dich nicht. Ich bin da.“
Niemand verlangt, dass du jederzeit stark und furchtlos bist, dass du angesichts der Herausforderungen unserer Zeit nicht auch mal einen Verzweiflungsschrei tust und kurz in die Knie gehst. Aber wir dürfen von unserem christlichen Glauben mehr erwarten, als dass er uns schöne Kirchen, Kunst und Musik schenkt: Er fordert uns heraus, standhaft zu sein, wenn andere es schon nicht mehr sind. Er schenkt uns die Kraftquellen, um nicht einzuknicken, wenn es darauf ankommt.
Geh zu deiner Kraftquelle.
Geh in die Stille.
Lausche der Musik.
Lese die Texte der Mystiker, die zeigen, wie man äußerlich stärker wird, indem man in die eigene Tiefe steigt.
Nimm deine Angst wahr, und dann lass sie vorüberziehen.
Suche dir andere Menschen, denen es so geht wie dir, und ermutigt euch gegenseitig.
Lass nicht zu, dass Menschen, die bewusst Ängste schüren, an deinem Kompass rütteln.
Erinnere dich immer wieder daran:
Fürchte dich nicht.
Ich bin da.
Amen.
Und der Frieden Gottes, der höher ist als alles, was wir verstehen, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.