Die linke Backe hinhalten

Predigt über Matthäus 5, 38-48

Ihr habt gehört, dass gesagt ist (2. Mose 21,24): „Auge um Auge, Zahn um Zahn.“ Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel, sondern: wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, dem biete die andere auch dar. Und  wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt, eine Meile mitzugehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der etwas von dir borgen will.

Ihr habt gehört, dass gesagt ist: „Du sollst deinen Nächsten lieben“ (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und  bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr  Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr liebt, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Tun nicht dasselbe auch die Zöllner? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr Besonderes? Tun nicht dasselbe auch die Heiden? Darum sollt ihr  vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist.

Liebe Gemeinde,

welch eine Zumutung, diese Worte von Jesus. Backe hinhalten, Mantel hergeben, nötigen lassen. Den Feind lieben. Eine Provokation. Darf ich mich nicht verteidigen, wenn ich angegriffen werde? Sollen die Menschen in der Ukraine, die angegriffenen Israelis, sollen die sich widerstandslos niedermetzeln lassen? Was für eine Zumutung. Was für eine Provokation.

Die Ablehnung dieser provokativen Aufforderung ist so alt, wie die Worte selbst. Schon zur Zeit, als Jesus sie gesprochen hat. Auf einem Berg – deshalb: Bergpredigt. Denn damals war Israel besetzt vom römischen Imperium. Und es gab jüdischen Widerstand gegen die Besatzer. Auch mit den Mitteln der Gewalt.

Die Einwände sind seitdem nicht weniger geworden. Und mehr als bedenkenswert: Der alte jüdische Einwand lautet, die Bergpredigt sei zu streng. Und überhaupt: Jesus maße sich da die Rolle Gottes an. Allein der könne gnädig sein. Sigmund Freud sagt: Unterdrückte Aggression bricht irgendwann unkontrolliert und umso heftiger aus. Der politische Einwand lautet, die Bergpredigt sei unrealistisch. Der ethische Einwand lautet, Gewaltverzicht fördere das Gesetz des Stärkeren. Karl Marx urteilt, die Bergpredigt schwäche den Kampf gegen Ungerechtigkeit, indem sie aufs Jenseits vertröste. Für den Philosophen Friedrich Nietzsche ist die Feindesliebe ein Zeichen der Schwäche.

Ich lebe weder in Israel noch in der Ukraine. Aber das heißt nicht, dass ich nicht betroffen sein kann. Anschläge, Nazis, besoffene Schläger: Backe hinhalten, Mantel hergeben, nötigen lassen. Den Feind lieben? Könnte ich das, wenn‘s ernst wird? Will ich das, wenn‘s soweit sein sollte? Diese Worte von Jesus – sie ärgern mich, sie machen mir auch Angst. Ich frage mich vor allem: Warum soll ich das tun? Warum soll ich nicht zurückschlagen? Zu was soll das gut sein?

Nun, ich denke, wir alle hier haben etwas gelernt, von Kindheit an: „Wie du mir, so ich dir.“ Oder wie Jesus sagt: „Ihr liebt die, die euch lieben.“

„Wie du mir, so ich dir.“ Ich will das gar nicht abwerten. Denn diese einfache Formel ist grundlegend für das menschliche Zusammenleben. Eine gesunde Balance zwischen Geben und Nehmen ist wichtig. „Wie du mir, so ich dir.“ Unsere privaten Beziehungen leben von Formen der Gegenseitigkeit genauso wie die politische Arbeit oder unser Wirtschaftsleben: Ich gebe dir etwas und bekomme etwas Gleichwertiges zurück. Das funktioniert gut, solange sich alle an die Spielregeln halten. Problematisch wird es, wenn das Gleichgewicht nicht mehr stimmt. Was geschieht, wenn jemand nicht das zurückerhält, was er aufgrund seiner Leistung erwarten könnte?

Am Prinzip ändert sich gar nichts. Es gilt auch jetzt: „Wie du mir, so ich dir. Wenn du nicht gibst, dann gebe ich auch nicht mehr.“ Oder im Blick auf die Worte Jesu: „Wenn du mich nicht liebst, dann liebe ich dich auch nicht.“ Ja, oft geht es gar noch weiter: „Wenn du zu mir gemein bist, dann bin ich es jetzt auch. Wenn du mich betrügst, dann betrüge ich dich auch. Wenn du mich schlägst, dann schlage ich auch.“

Die Folge ist eine oft fatale Konfliktspirale, aus der man sich kaum befreien kann. Wenn ich strikt dem Prinzip der Gegenseitigkeit folge, reagiere ich nur. Ich warte ab, schaue, was das Gegenüber macht – und zahle mit gleicher Münze heim. Sicher: Positives Verhalten wird dadurch gestärkt, aber wehe, wenn sich einmal ein negatives Muster entwickelt hat. Langjährige Familienstreitigkeiten, endlose Nachbarschaftsfehden und anhaltende politische Krisen zeugen von dieser destruktiven Macht.

Nun spricht Jesus ja nicht von unsympathischen Nachbarn, familiären Widerlingen oder wirtschaftlichen Konkurrenten. Sondern vom Feind. Der mein Eigentum fordert. Mich nötigt. Zuschlägt. Mich demütigt.

Dietrich Bonhoeffer erinnert in seiner Auslegung der Bergpredigt daran, dass die Begegnung mit einem Feind das „Außerordentliche“ erfordert. Das außerordentliche Verhalten, das ich im Umgang mit unsympathischen Nachbarn, familiären Widerlingen oder wirtschaftlichen Konkurrenten hoffentlich schon etwas eingeübt habe. Das „Wie du mir, so ich dir“-Prinzip zu durchbrechen. Weil diese Strategie einzig wirklich wirkungsvoll ist. Wirkungsvoll vor allem für den, der zuschlägt. Gewalt nicht mit Gewalt zu beantworten, ist die wirkungsvollste Methode, um den Gewalttäter von der Gewalt abzubringen. Und zwar nicht nur für den Augenblick, sondern auf Dauer. Ihn völlig zu verunsichern. Aus dem Konzept zu bringen. Ihn fassungslos zu machen. Zurückzuschlagen – das wäre das Übliche. Aber die nächste Backe hinzuhalten – das setzt die Spielregeln außer Kraft.

Und wenn’s nicht funktioniert? Ist der Preis nicht hoch? Ja, der Preis ist hoch, dem Übel zu widerstehen. Es wirklich anzugehen – und nicht nur in Schach zu halten. Es geht Jesus nicht um ein Gleichgewicht zwischen Gut und Böse, sondern um den Sieg über das Böse; und das geht nur, ohne dessen Mittel zu gebrauchen.

Die linke Backe hinhalten

 

Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse mit Gutem, sagt Paulus im Brief an die Römer. Es ist schwer, in diesem Geist zu handeln. Sie und ich können das privat selbst entscheiden, ob wir es in einer konkreten Situation tun – können. Oder wollen. Aber übertragen auf die großen, schrecklichen Ereignisse, noch einmal die Frage gestellt: Sollen die Menschen in der Ukraine, die angegriffenen Israelis, sollen die sich widerstandslos niedermetzeln lassen? Sicher nicht.

Dietrich Bonhoeffer ging in den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, hat den Tyrannenmord, den Anschlag auf Adolf Hitler, gerechtfertigt als geringeres Übel gegenüber der Shoah. Und daran mitgearbeitet. Und dabei trotzdem das Prinzip der Feindesliebe nicht beiseite getan. Nicht gehandelt nach dem „Wie du mir, so ich dir Prinzip“. Nicht Gleiches mit Gleichem vergolten. In Israel und in der Ukraine – da besteht die Gefahr, dass Gleiches mit Gleichem vergolten wird. Du ermordest meine Kindern, dann töte ich deine. Du zerstörst meine Stadt – dann zerstöre ich deine.

Pinchas Lapide, der große jüdische Theologe, hat eine Friedensstrategie aus der Feindesliebe entwickelt. Oder wie er sagt: der „Entfeindungsliebe“. Auch für Lapide ist Feindesliebe nicht edle Gesinnung, die mich vielleicht in den Himmel bringt. Sondern an einen Zweck gebunden: Durch die ihm entgegengebrachte Liebe soll der Feind zur Aufgabe seiner Feindschaft gebracht werden. Er sagt: „Feindschaft gibt es wohl – aber es muss sie nicht für immer geben, denn, wie Jesus uns empfiehlt, gilt es, die Feindschaft zu bekämpfen – aber nicht den Feind.“

Drei Handlungsweisen, eine Friedensstrategie, leitet Lapide aus den biblischen Weisungen ab:

Zuvorkommenheit trägt zur Entfeindung bei („Und wenn dich jemand zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm“, Mt 5,41), ebenso maximale Nachgiebigkeit, die mit Prestige-Verzicht und Demut gleichzusetzen ist („Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“, Mt 5,39). Gut, damals vor dem Zweiten Weltkrieg hat das nicht gegriffen, sagt die Geschichtsforschung.

Die dritte Handlungsweise ist jetzt vielleicht überraschend. Sie greift, wenn die ersten beiden Handlungsweisen versagen: die Bereitschaft zur Notwehr gegen den Feind, der dich umbringen will. Da helfen nur zwei Schwerter: Zur Vorbeugung oder zur Selbstbehauptung; ganz im Sinne Jesu, der den Seinen in einem Gleichnis rät: „Wenn der Starke bewaffnet seinen Hof bewacht, so bleibt sein Besitztum in Frieden.“ (Lk 11,21)

Nun könnten wir noch überlegen, wo in den großen Konflikten, die uns derzeit ängstigen, eitle Menschen mit großer Macht über andere weder genügend zuvorkommend noch demütig waren, weder genügend auf Prestige verzichtet noch ausreichend nachgiebig waren. Und ob deshalb diese unfassbaren Gewaltausbrüche entstanden sind.

Ich will an etwas anderes erinnern: Es gibt Menschen, die weiter versuchen, im Sinne Jesu zu handeln. Die nicht Gleiches mit Gleichem vergelten. Die mahnen, die Feindseligkeit zu bekämpfen, nicht den feindseligen Menschen. Und Ihnen und mir bleibt, im eigenen Leben die Friedensstrategie zu üben: Großzügigkeit, Zuvorkommenheit. Und Notwehr nicht mit Vergeltung zu verwechseln.

Und der Friede, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Rundfunkpfarrer Jörg Metzinger
Predigt vom 29. Oktober 2023