Wahlverwandtschaften
Patchwork
Dass Jesus die eigene Familie oftmals höchst unfreundlich behandelte, thematisierte Peter Sorg in seinem Gottesdienst am 14. September 2025 auf dem Lorenzberg. Hier zum Nachlesen.
Predigt über Markus 3,31 ff
Was ist eine Familie? Eine banal klingende Frage. Mutter, Vater, Kind natürlich. Und die bucklige Verwandtschaft vielleicht noch. Die Mischpoche. Aber dann ist Schluss. Ja, und auf die Familie ist Verlass. Hofft man zumindest. Überzeugt davon zeigte sich jedenfalls der Autor Tijan Sila in seiner diesjährigen Abiturientenrede im Silo-Garten am Osthafen. Er legte den jungen Menschen, die da versammelt waren und für die nun eine neue Lebensphase begann, die Wertschätzung der eigenen Familie ans Herz. Niemand würde sie bedingungsloser lieben als Mama und Papa. Das Elternhaus stand nach seinen Worten quasi stets offen und stellte sich als Garant der Stabilität dar. Ich schätze den Autor sehr, verschwieg er doch nicht die Fragilität der eigenen vom Trauma des Kosovokrieges bis ins Mark erschütterten Familie.
Als Mensch, der lebensbedrohliche Situationen und Krisen erlebt und überlebt hat, der weiß, wie bestimmte Einflüsse die Grundmauern einer Familie ins Wanken bringen, propagierte er dennoch die Familie als Fels in der Brandung. Die Geburt seiner kleinen Tochter, die eine ungekannte Liebe in ihm geweckt hatte, machte ihn da so sicher. Mich jedoch, der ich durchaus ein Familienmensch bin, beschlichen Zweifel. Wie viele der angesprochenen Teenager mögen noch in einer idealisierten Mama, Papa, Kinder-Familie leben. Oder ist da Papas Freundin im Spiel, Mamas Partner und dessen Kinder. Auch kommt es vor, dass Mama jetzt eine Partnerin hat oder Papa einen Freund, den er liebt. Familie ist eben auch Patchwork. Genau wie sie Papa, Mama, Kinder sein kann.
Rückhalt oder Überforderung
Familie kann ebenso Frieden sein wie Krieg. Spätestens, wenn es etwas zu erben gilt, wird das oft deutlich. „Sinna noch ähnisch odda hanna schon gedählt“ heißt das in meiner Neinkeijer Heimat. Familie ist kein romantischer Hort. In meiner Klinikzeit war ich in der Kinderschutzgruppe aktiv und weiß seither, was ein Rosenkrieg ist. Montags waren dann schwere Vorwürfe gegen den Wochenend-Vater im Raum. Nicht immer berechtigt. Familie kann ein bedingungsloser Rückhalt für einen Menschen sein, der das Leben erobert, wir Tijan Sila es beschreibt. Sie kann aber auch den Rucksack mit Erwartungen überfüllen, aus denen ein Scheitern oder wenigstens dauerhaftes Unglück resultieren. „Wir sind seit vier Generationen Ärzte und du wirst auch einer.“ Welch eine Hypothek! Oder die Tochter wird ans Klavier gequält. Sie aber würde viel lieber Flugzeugmodelle bauen, weil sie nach dem Ingenieurs-Opa kommt.
Weib, was hab ich mit dir zu schaffen?
Aber warum erzähle ich all das im Rahmen einer Predigt? Nun, weil die Familie in der Bibel immer wieder vorkommt, auch wenn es die Kleinfamilie zu biblischen Zeiten noch gar nicht so gab. Die entstand eigentlich erst mit der Industrialisierung. In den Jesusgeschichten spielt dessen Familie immer wieder eine Rolle. Die Eltern suchen ihren pubertierenden Spross, und der pflegt in der Synagoge den theologischen Diskurs mit den geistlichen Autoritäten. Die Mutter wird bei der Hochzeit zu Kana heftig brüskiert: Weib, wie Luther noch schrieb, Weib, was habe ich mit dir zu schaffen, meine Stunde ist noch nicht gekommen. Und dann wird Mamas Wunsch doch erfüllt. Wasser wandelt sich zu Spätlese. So ist das manchmal bei schroffen Jungs, sie können der Mama nichts abschlagen. In der Bibel spielt Jesu Herkunftsfamilie definitiv eine Rolle. Da werden seine Brüder mit Namen benannt, die Schwestern erwähnt. Wenn die katholische Kirche für Josef, den Bräutigam Marias predigt, kann ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Als Verlobte eine ganze Schar von Kindern zu zeugen, ist jedenfalls nicht sehr katholisch. Der Sterbende erklärt am Kreuz Maria, seine Mutter und Johannes, den Lieblingsjünger, zu Mutter und Sohn. Ist das vielleicht die erste Patchworkfamilie?
Wer ist meine Familie?
Doch Scherz beiseite, denn in unserem Predigttext für diesen 13. Sonntag nach Trinitatis geht es ganz schön ärgerlich zu!
31 Da kommen seine Mutter und seine Geschwister, und sie blieben draußen stehen, schickten zu ihm und ließen ihn rufen. 32 Und das Volk saß um ihn herum, und sie sagen zu ihm: Schau, deine Mutter und deine Brüder und Schwestern sind draußen und suchen dich. 33 Und er entgegnet ihnen: Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Geschwister? 34 Und er schaut, die im Kreis um ihn sitzen, einen nach dem andern an und spricht: Das hier ist meine Mutter, und das sind meine Brüder und Schwestern! 35 Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.
Ein bisschen was von einem Popstar muss Jesus wohl gehabt haben. Immer Fans um sich herum. Neider, die ihm Fallen zu stellen versuchten. Distanz zu den eigenen Wurzeln. Dem Handwerkervater, der abgöttisch liebenden Mutter, den leiblichen Geschwistern. Stattdessen stets einen Cordon von Anhängern um sich. Die Bros und Buddys, wie das heute heißt.
Und er schaut, die im Kreis um ihn sitzen, einen nach dem andern an und spricht: Das hier ist meine Mutter, und das sind meine Brüder und Schwestern! 35 Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter.
Ich bin bei dieser Geschichte, die Matthäus, Markus und Lukas überliefern, schon immer bei Jesu Familie. So muss sein, wenn man sein erwachsenes Kind an eine Sekte verliert. Ideologische Prüfung: Wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter. Und emotionaler Abbruch: Und er schaut, die im Kreis um ihn sitzen, einen nach dem andern an und spricht: Das hier ist meine Mutter, und das sind meine Brüder und Schwestern! Das wünscht sich niemand. So wünsche ich mir auch keine Kirche auf einer festen ideologischen Basis, die glaubt zu wissen, was Gottes Willen sei. Und für die anderen gilt das gute alte Metzgerschild: Wir müssen draußen bleiben.
Diese Geschichte von „Jesu wahren Verwandten“, wie sie meist überschrieben ist, birgt das Potenzial zur Ausschließeritis. Das ist ein Mechanismus, dessen sich sehr fromme Kreise gerne bedienen. Das Athering, wie es die Soziologie nennt. WIR sind uns einig! Die anderen sind eben die ANDEREN. Ein WIR-DIE-Dualismus. Im Dorf habe ich den immer wieder erlebt und gegen ihn angekämpft. WIR DIE, das ist Konfessionalismus. Das teilt das Denken in richtig und falsch ein. Da muss ich die eigene Position nicht mehr begründen, den anderen nicht mehr versuchen zu verstehen. Das ist Ideologie. Eine Ideologie, die sich bei Jesus oder besser bei seinen Überlieferern immer wieder findet. Wer die Hand an den Pflug legt und zurückblickt, der ist nicht geschaffen für das Reich Gottes. Na, dann bin ich’s halt nicht, als einer, der immer wieder in den Rückspiegel seines Lebens und der Weltgeschichte schaut! Das sind die Züge der Bibel, die den Fanatismus, die finstere Seite der Religion stets genährt haben. Vielleicht geht es aber letztlich um die Erkenntnis, dass man manchmal Bindungen lockern, ja lösen muss. Aber bitte nicht ideologisch kalt und fanatisch.
Seid eine Familie!
Zwischen Bekennender Kirche und Deutschen Christen in der Nazizeit war es sicher so. Die einen, die DC-ler, folgten dem Führerprinzip. Die Bonhoeffers, Niemöllers und viele andere kannten nur einen Herrn und Gott. Du musst dich entscheiden! Aber in unseren spaltenden Zeiten, in denen unsere Glaubensgemeinschaft brutal an Relevanz verliert, da ist Versöhnen angesagt. Das Respektieren verschiedener Wege.
Unsere Geschichte hat am Ende einen Schlüssel, den ich gerne in die Hand nehme: Denn wer den Willen Gottes tut, der ist mir Bruder und Schwester und Mutter. Keiner und keine von uns hat diesen Willen glasklar und in Stein gemeißelt vor sich. Wir ringen, tasten, suchen. Alle. Und darin sind wir alle Familie.
Jesu Geschwister und Eltern waren mit Sicherheit ebenso fromme Juden wie er selber. Sie fragten nach dem Willen Gottes WIE ER! Und wir, die wir uns auf ihn berufen, wir sind nicht in einer Bahn gewebt wie der Heilige Rock zu Trier, sind nicht unifarben. Wir sind Patchwork. Eine zusammengewürfelte Familie, die lachen darf und in der es krachen darf. Die sich gar gegenseitig verhöhnt – aber bitte danach auch versöhnt. Die sich auch mal Stolpersteine stellt, aber den Gestrauchelten hält, die liebt und vergibt, die dem Hass widersteht und ihren friedlichen Weg geht zu dem, der uns eint, den Freund wie den Feind. Denn der Weg ist das Ziel: soyez une famille. Seid eine Familie! Wenigstens ein bisschen. Amen